Sie hören den Rundfunksender „Stimme Russlands“
mit einer weiteren Sendung aus der Rubrik „Kriege des 20. Jahrhunderts“. Im
Studio befindet sich der eingeladene Experte für Probleme der Geopolitik des
Balkans, der Schwarzmeerregion und des Kaukasus Alexander Karassjew aus dem
Institut für Slawistik der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Heute erzählen wir vom schweren Weg, den Abchasien
und Südossetien zur Erlangung ihrer Unabhängigkeit gegangen sind. Er forderte
viel Blutvergießen und endete im August 2008 mit der Anerkennung beider
Republiken durch Russland.
Es hatte so begonnen …
Als im April 1990 der Oberste Sowjet der UdSSR das
Gesetz „Über die Vorgehensweise bei der Regelung von Fragen, die mit dem
Austritt einer Unionsrepublik aus der UdSSR verbunden sind“ verabschiedete, das
die Selbstbestimmung von Autonomien zuließ, verabschiedete der Oberste Sowjet
Abchasiens im August 1990 eine Deklaration über die Souveränität der
Abchasischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik. Georgien lehnte es ab, an
der im März 1991 veranstalteten Volksabstimmung über die Erhaltung der UdSSR
teilzunehmen. In Abchasiens fand diese Volksabstimmung indessen statt. An ihr
beteiligten sich 52 % der Wahlberechtigten, also praktisch die gesamte nicht
georgische Bevölkerung. Mehr als 98 % von ihnen stimmte für die Erhaltung der
UdSSR. Mehrere Tage später wurde in Georgien eine Volksabstimmung über die
Wiederherstellung der staatlichen Souveränität durchgeführt, die wiederum von
der nicht georgischen Bevölkerung Abchasiens boykottiert wurde. Die überwiegende
Mehrheit der Teilnehmer sprach sich für die Unabhängigkeit Georgiens aus.
Gestützt auf diese Volksabstimmung verabschiedete der georgische Oberste Sowjet
die Unabhängigkeitserklärung.
Im Februar 1992 verkündete der regierende
Militärrat Georgiens die Aufhebung der Verfassung des Landes und die
Wiederherstellung der Verfassung der Georgischen Demokratischen Republik von
1921. Im Versuch, eine Eskalation der Spannung zu verhindern, beschloss das
abchasische Parlament, den georgischen Behörden vorzuschlagen, eine Vereinbarung
über die Herstellung föderativer Beziehungen abzuschließen. Doch im Morgengrauen
des 14. August 1992 – am Tag der anberaumten Verhandlungen – rückten georgische
Truppen, die dem Staatsrat Georgiens unterstanden, in das Territorium Abchasiens
ein, um den Plan unter dem Code „Schwert“ zu realisieren. Im Zuge erbitterter
Gefechte gelang es den georgischen Truppen, die erste Verteidigungslinie der
abchasischen Truppen zu überwinden und die abchasisch-russische Grenze unter
ihre Kontrolle zu nehmen. Am 18. August besetzten sie die abchasische Hauptstadt
Suchum.
Am 3. September 1992 wurden in Moskau auf höchster
Ebene dreiseitige abchasisch-georgisch-russische Vereinbarungen über die
Prinzipien zur friedlichen Regelung des Konflikts unterzeichnet. Aber bald
darauf brachen die Kampfhandlungen mit neuer Kraft aus. Die abchasischen
Einheiten wehrten die Offensive der georgischen Truppen ab und gingen Anfang
Oktober zur Gegenoffensive über, wobei sie die Stadt Gagra befreiten und die
Grenze zu Russland wieder unter ihre Kontrolle brachten. Im Verlauf der
Kampfhandlungen wurden die Garde-Elitetruppen Georgiens – „Mhedrioni“ und „Tetri
arzivi“ – zerschlagen.
Mitte September 1993, nachdem sich Tbilissi
geweigert hatte, die auf Initiative Russlands in Sotschi unterzeichnete
dreiseitige Vereinbarung über den Abzug der georgischen Truppen aus Abchasien zu
realisieren, begann eine neue abchasische Offensive. In ihrem Zuge konnte am 27.
September 1993 die Stadt Suchum befreit werden. Im November 1994 verabschiedete
das Parlament der Republik eine neue Verfassung, die Abchasien zu einem
souveränen Staat erklärte.
Zu jenem Zeitpunkt war Südossetien de facto
ebenfalls unabhängig. Im September 1990 deklarierte der Sowjet der
Volksdeputierten des Südossetischen Autonomen Gebietes die Südossetische
Sowjetische Demokratische Republik im Bestand der UdSSR und verabschiedete
außerdem eine Deklaration über die nationale Souveränität. Doch schon am 10.
Dezember 1990 löste der georgische Oberste Sowjet dieses autonome Gebilde auf.
In der Nacht zum 6. Januar 1991 marschierten
Einheiten der Miliz und der Nationalgarde Georgiens in Zchin wal ein. Dort
stießen sie auf den Widerstand der ossetischen Selbstverteidigungskräfte und der
einheimischen Miliz, so dass sie sich genötigt sahen, die Stadt nach drei Wochen
wieder zu verlassen. Daraufhin änderte Tbilissi seine Taktik und leitete eine
Wirtschaftsblockade gegen die widerspenstige Autonomie ein – insbesondere
stellte es im Februar 1991 die Stromversorgung Südossetiens ein. Die
südossetischen Kräfte reagierten hauptsächlich mit einer Partisanentaktik. Im
Januar 1992 wurde in Südossetien eine Volksabstimmung durchgeführt, bei der sich
98 % der Teilnehmer für die Unabhängigkeit Südossetiens mit der Perspektive
seines Anschlusses an Russland aussprachen. Gestützt auf diese Volksabstimmung
verabschiedete der Oberste Sowjet der Republik Südossetien am 29. Mai 1992 die
Akte über die staatliche Unabhängigkeit der Republik Südossetien. Was die
Kampfhandlungen betrifft, so wurden sie im Großen und Ganzen nach der
Unterzeichnung der Dagomys-Vereinbarungen zwischen Russland und Georgien
eingestellt. Gemäß diesen Vereinbarungen wurden am 14. Juli 1992
Friedenstruppen, bestehend aus einem russischen, einem georgischen und einem
ossetischen Bataillon in der Konfliktzone stationiert.
Dieses Kräfteverhältnis blieb in Abchasien und
Südossetien insgesamt bis Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts
erhalten, als es zu einer neuen Zuspitzung der Lage kam. Und das in erster Linie
wegen der von den USA und der Europäischen Union betriebenen Beschleunigung des
Projekts zur Gewährung der Unabhängigkeit für ein auf einseitige Weise
deklariertes Staatsgebilde – das Kosovo. Alexander Karassjew erzählt hierzu
Folgendes:
„Gerade aus diesem Grunde gelangte die Frage
hinsichtlich der Staatlichkeit Abchasiens und Südossetiens auf eine andere
Ebene. Denn ein Aspekt des Konzepts der Westmächte über die sogenannte
‚Einmaligkeit‘ der Kosovo-Frage und über ihren Unterschied zu den Fällen um
Abchasien und Südossetien war jener, dass in Abchasien sehr viel mehr Georgier
als Serben im Kosovo leben, und dass in Südossetien noch mehr Georgier leben
würden. Doch im Kosovo leben trotzdem nicht nur Kosovaren. Natürlich sind die
120 000 Serben verglichen mit den 2 Millionen Albanern nicht sehr viel. Dennoch
muss im Fall des Kosovo, aber auch hinsichtlich Abchasiens und Südossetiens, von
einem multi-ethnischen Milieu gesprochen werden. Das ist jene Tatsache, die dem
Konzept von der Einmaligkeit der Unabhängigkeit des Kosovo sofort den Boden
nimmt und verlangt, es als Präzedenzfall zu betrachten. Das Ergebnis war, dass
alle Konfliktseiten aktiver wurden. Abchasien und Südossetien forderten, ihnen
gegenüber dieselben Prinzipien anzuwenden wie gegenüber dem Kosovo. Die
georgischen Behörden in Tbilissi beschlossen indessen, die widerspenstigen
Republiken endgültig zu bezwingen.“
In dieser Zeit tat sich in den Hauptstädten der
Welt Folgendes …
Bis hin zu den Ereignissen vom August 2008 hielt
sich Russland entschieden zurück, die aus Abchasien und Südossetien mehrfach in
Moskau eintreffenden Bitten um die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit zu
unterstützen. Moskau bestand darauf, alle strittigen Fragen auf dem
Verhandlungswege mit den Behörden Georgiens, darunter unter russische r
Vermittlung, zu regeln. In Tbilissi aber hatte man bereits eine Wahl getroffen.
Im Weiteren entwickelten sich die Ereignisse so …
In der Nacht vom 7. zum 8. August 2008 startete
die georgische Armee ihre Militäroperation gegen Südossetien, und zwar unter der
Losung „Wiederherstellung der Verfassungshoheit“, wie es im Befehl hieß, den der
georgische Präsident Michail Saakaschwili unterzeichnet hatte. Die erste Etappe
einer solchen sogenannten „Friedensoperation“ wurde der um 23.45 Uhr Moskauer
Zeit am 7. August einsetzende Beschuss durch die schwere Artillerie. Näher zum
Morgen hin klinkten georgische Bomber ihre Bomben über der Stadt aus, und die
Streitkräfte starteten ihre Bodenoperation. Am 8. August um die Mittagszeit
hatten sie 70 % der Stadt Zchinwal in ihre Gewalt gebracht. Später entdeckte
Dokumente bezeugen, dass nach der militärischen Zerschlagung Südossetiens für
Abchasien ein ähnliches Schicksal vorgesehen war.
Im Westen rieb man sich bereits die Hände …
In der am 8. August auf initiative Russlands
einberufenen Sondersitzung des Sicherheitsrates der UNO lehnten es die
Versammelten ab, den Vorschlag Russlands anzunehmen und den Einsatz von Gewalt
im georgisch-ossetischen Konflikt zu verurteilen. Sie äußerten lediglich ihre
„Besorgnis“ im Zusammenhang mit der zunehmenden Spannung in der Konfliktzone.
Gleichzeitig befürwortete die US-Armeeführung die Verlegung einer 2000 Mann
starken georgischen Elitetruppe aus dem Irak, wo sie im Bestand der
Koalitionstruppen im Einsatz war, nach Georgien. Nach der vorliegenden
Information beabsichtigten Washington und Tbilissi, auf diese Art und Weise das
Szenario eines „schleichenden“ Eindringens der Amerikaner in die Konfliktzone
nach Südossetien zu realisieren.
Aber auch in Moskau war man auf der Hut …
Der Präsident Russlands Dmitri Medwedjew
unterbrach seinen Urlaub und führte am 8. August eine Sondersitzung des
russischen Sicherheitsrates durch. Dort erklärte er, der Staatschef sei
verpflichtet, das Leben und die Würde der Bürger Russland zu schützen, egal wo
sich diese befinden würden. (Es ist so, dass die meisten Einwohner Südossetiens
und ebenso Abchasiens einen russischen Personalausweis besitzen.) Danach wurden
durch den Rokski-Tunnel, durch den die einzige Verkehrsmagistrale aus Russland
nach Südossetien führt, Einheiten der im Nordkaukasus stationierten 58.
Russischen Armee in die Region Zchinwal in Marsch gesetzt. Dort nahmen sie
sofort den Kampf gegen die georgischen Einheiten auf. Am nächsten Tag
verkündeten die russischen Behörden, dass die Operation „zur Nötigung zum
Frieden“ begonnen habe. So bezeichnete Dmitri Medwedjew das Geschehen, als er am
9. August ein Telefonat mit dem Präsidenten der USA George Bush führte. Der
russische Regierungschef Wladimir Putin erklärte bei seinem Besuch eines Lagers
für südossetische Flüchtlinge in der Stadt Wladikawkas, die georgische Seite
betreibe ein „volles Genozid“ und ein „Verbrechen gegen das eigene Volk“. Er
erklärte, damit habe sie der territorialen Integrität, aber ebenso ihrer
Staatlichkeit einen tödlichen Schlag versetzt.
Indessen gewann das Blutvergießen an Kraft …
Die georgischen Streitkräfte sahen sich der Gefahr
gegenüber, Kampfhandlungen an mehreren Fronten zu führen. Abchasien trat am 10.
August in den Krieg ein und verkündete die allgemeine Mobilmachung. Was die
Situation in Südossetien betrifft, so gingen die georgischen Truppen nach dem
Einmarsch der russischen Armeegruppierung im Raum Zchinwal zur Verteidigung
über. In der zweiten Tageshälfte des 9. August unternahmen die georgischen
Truppen einen neuen Versuch, Zchinwal einzunehmen. Doch schon am Tag darauf, als
das 503. Motorschützenregiment der russischen Armee die Stadt erreichte,
leiteten sie ihren Abzug aus der südossetischen Hauptstadt und insgesamt aus
Südossetien ein. Die russischen Streitkräfte begannen in der Tiefe des
georgischen Territoriums mit der Unterdrückung der Feuerpunkte und Orte, wo
umfangreiche militärische Kräfte des Gegners konzentriert waren.
Es wurde Zeit, Frieden zu vereinbaren …
Schon am 12. August stimmten die Präsidenten
Russlands und Georgiens unter aktiver Vermittlung des französischen Staatschefs
Nicolas Sarkozy die Hauptprinzipien zur Regelung der georgisch-ossetischen Krise
ab. Die Präsidenten Medwedjew und Sarkozy legten sie auf einer gemeinsamen
Pressekonferenz so dar:
Kein Einsatz von Gewalt
Endgültige Einstellung aller Kampfhandlungen
Freier Zugang zur humanitären Hilfe
Die georgischen Streitkräfte kehren an ihre
ständigen Stationierungsorte zurück.
Die Streitkräfte der Russischen Föderation ziehen
sich an die Linie zurück, wie sie vor dem Ausbrechen der Kampfhandlungen
existierte.
Es beginnt eine internationale Erörterung über die
Fragen des künftigen Status von Südossetien und Abchasien und die Wege zur
Erzielung einer stabilen Sicherheit.
Der georgische Präsident Michail Saakaschwili
weigerte sich jedoch, diesen letzten Punkt zu unterzeichnen. Außerdem erfüllte
er faktisch auch nicht die anderen Forderungen. Er nahm indessen eine
beschleunigte Umrüstung seiner Streitkräfte in Angriff, um eine militärische
Revanche zu starten. Unter diesen Umständen blieb Russland nichts anderes, als
die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens offiziell anzuerkennen. Wie in
seiner Fernsehansprache vom 26. August 2008 Dmitri Medwedjew betonte, sei das
keine einfache Wahl, aber die einzige Möglichkeit gewesen, den Menschen das
Leben zu erhalten.
Aber war das Kriegsfeuer damit zuverlässig
gelöscht? Alexander Karassjew sagt dazu Folgendes:
"Was der Präsident Georgiens Michail Saakaschwili
im Weiteren unternehmen wird, ist klar. Er erklärte bereits, er werde dem nicht
zustimmen „auch nur einen Fußbreit seines Boden“ abzugeben, das heißt,
Saakaschwili bleibt unnachgiebig. Er will weder Abchasien noch Südossetien eine
Autonomie zugestehen. Somit besitzt die Anerkennung der Unabhängigkeit
Abchasiens und Südossetiens durch Russland meines Erachtens einen unumkehrbaren
Charakter. Auf jeden Fall sind nach dem August 2008 die Spitzenpolitiker der
Region und auch die Westmächte verpflichtet, die Position und die Interessen
Russlands aufmerksamer zu berücksichtigen".
16.11.2011 Stimme Russlands
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